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Das jedoch, verehrte Damen und Herren, ist weit mehr als nur ein künstlerisches Spiel. Es ist eine Grundsatzerklärung. So wie es das Ziel der klassischen Malerei einst war, die Wirklichkeit in idealisierter Schönheit nachzuahmen. So gibt Ransome Stanley nun der Wirklichkeit sehr punktuell die Chance, seine Malerei nachahmend einzuholen. Wobei die wechselseitige Verwandlungskunst bisweilen etwas fast schon Unheimliches annimmt. Etwa, wenn die Malerei mit ihren Schrunden, ihren Maserungen, ihrem Rost so zwingend eine darunter liegende Wand oder zumindest doch ein recht massives eisenbeschlagenes Holzbrett suggeriert, dass man nachgeradezu erschrickt, wenn das Bild dann bei Berührung unverhofft zu schwingen anhebt und nichts anderes ist als ganz normal bemalte Leinwand (während anderen Ortes die vermeintliche Malerei sich eben doch als echtes Zinkblech ausweist).
Auf derlei im Wortsinn schwankendem Grund bewegen sich die Bilder. Wobei uns klar sein muss, dass Ransome Stanley solcherart in Wahrheit Zeit gestaltet. Dass er seinen Bildern ihr Alter, ihren Verfall und ihre Vorgeschichten hinzu erdichtet. So, wie in geschriebenen Palimpsesten eben auch nicht nur vier Texte, sondern mit ihnen auch vier Zeiten, vier Epochen und Kulturen in- und übereinander gelagert wurden.
Damit aber sind wir dem eigentlichen Inhalt dieser Malwerke sehr nahe. Denn dass sie einen Inhalt haben, dass sie über ihre Kunst hinaus Geschichten erzählen wollen, ist ersichtlich. Nur erscheinen diese Geschichten auf den ersten Blick so hochgradig verschlüsselt, so verwoben in ihr eigenes Geheimnis, dass wir zu resignieren bereit sind, ehe wir mit unseren Fragen auch nur recht begannen.
Dies Geheimnis allerdings lässt sich entschlüsseln, wenn wir erst zu akzeptieren bereit sind, dass sich Ransome Stanleys Palimpsest-Prinzip auch auf die Bild-Inhalte erstreckt. Dass sich hier verschiedene, auch zueinander durchaus heterogene, aber in sich dennoch kohärente Themenschichten überlagern: ein Erinnerungs-Memory, eine Art Kultur- und Lebens-Puzzle in 3D, das mit der Realität des Autors, Malers und Erfinders mehr zu tun hat, als ihm und uns möglicherweise lieb sein kann.
Denn, meine Damen und Herren, es bleibt immer misslich, wen wir die Biographie des Künstlers mit heran ziehen müssen, um seine Bilder zu erklären. Die zünftige Fachdisziplin sieht derlei nicht sehr gerne. Aber andererseits – um nur ein aktuelles Zufallsbeispiel anzuführen: Blieben die grandiosen Rätselbilder eines Max Beckmann für uns nicht gänzlich unverstehbar, wenn wir sie nicht mit der Zeit der Weimarer Republik, der Nazi-Diktatur, dem Leben und der Position des Künstlers, der Beziehung zu seinen Lebenspartnerinnen Mina Tube und Mathilde "Quappi" Kaulbach, seiner Flucht nach Amsterdam, seinen verzweifelten Einreisebemühungen in die USA und all dem in Verbindung setzen könnten?
Nun, bei Ransome Stanley kommen wir nicht weiter ohne das Wissen um seinen Vater, einen nigerianischen, in London arbeitenden Journalisten, der 1958 als Reporter über den Unabhängigkeitskrieg zwischen Angola und Portugal berichten sollte, eines Tages verschwand und nie gefunden wurde. Da war Ransome Stanley gerade fünf; und seitdem muss er mit der unheilbaren Lebensverletzung eines verschollenen Vaters leben, über dessen Schicksal seit nun beinahe fünfzig Jahren kein Lebens-, aber auch kein Sterbenszeichen Auskunft gibt. Wir kommen aber auch nicht weiter ohne das Wissen um die deutsche Mutter, ohne Stanleys Kindheit und Jugend in der Nähe von Basel. Ohne seine durch und durch mitteleuropäische Erziehung. - Einschließlich dessen, was Dieter Dorn vor vielen Jahren einmal unsere "amerikanische Erziehung" genannt hat. Also, um es in drei K-Laute zu fassen: Kino, Comics, Coca Cola. Wir kommen nicht weiter ohne die Tatsache, dass Ransome Stanley sein Vaterland im ursprünglichen Sinn des Wortes, also Afrika, erst vor vier Jahren als Tourist erstmals leibhaft erlebt hat; aber dieses Vaterland als Loch, als bittere Nicht-Erinnerung in seinem Leben dennoch seit der Kindheit in sich spürt. Während seine Heimat, seine Kultur, sein Leben ganz und gar in Europa und seit nunmehr 21 Jahren ganz konkret in München liegt.
Wenn wir all das aber miterwägen, wird es plötzlich sehr viel leichter versteh- und ganz im Wortsinn einsehbar, warum in der verblichen grünen Bretterwand, die uns in seinem Bild "Atelier" die Sicht vernagelt, links oben eine Art Fenster in die Tiefe aufbricht zu drei Schwarzafrikanern in Landestracht, die aber dennoch nicht real erscheinen, sondern mehr wie ein verkratztes, brüchig gewordenes Foto, auf dem wiederum zwei andere Erinnerungsbilder pinnen: zum Beispiel links zwei Jazz-Sänger aus einem amerikanischen Comic-Strip der zwanziger- oder dreißiger Jahre, als es noch gänzlich legitim, gutmütig witzig und womöglich kindgerecht schien, farbige Musiker gleichsam als Orang-Utans im Anzug darzustellen. Und ganz offen gesagt: Ich habe das Gefühl, dass Ransome Stanley diesen eigentlich doch fürchterlichen, ekelhaft rassistischen Ausriss durchaus nicht anklägerisch oder gar wütend in sein Bild montiert hat. Sondern – verzeihen Sie die Zumutung – fast schon nostalgisch. Wir beide – er und ich – entstammen ja annähernd der selben Generation. Und vermutlich haben er und ich damals all diese Tex-Avery-Comics, diese "Looney Toons" und Merry Melodies", all diese blödelnden Cartoons, all die vergnügten "Mecki bei den Negerlein"-Geschichten mit demselben unschuldigen Vergnügen genossen, mit dem wir Micky Maus und Schweinchen Dick und Felix den Kater lieb gewannen. Ohne im mindesten zu begreifen, was da eigentlich ablief. Diese Naivität hat man uns mittlerweile gründlich abgeräumt; und damit doch zugleich ein Loch in uns zurückgelassen. Etwas Unausgefülltes. Eine nicht vollständig abgelöste, durch Vernunft bewältigte Scham (wobei ich mir denken könnte, dass dieser zivilisatorische Crash bei Ransome Stanley einen ungleich komplizierten, noch ungleich schlechter ausheilbaren Splitterbruch zurückließ als bei mir).
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