Galerie Peter Herrmann
Rede von Klaus Jörg Schönmetzler, Kulturreferent des Landkreises Rosenheim zu einer Ausstellungseröffnung von Ransome Stanley.

Guten Abend, meine Damen und Herren,

man ist nur zu gern geneigt, für eine erste Umschreibung von Ransome Stanleys Malerei den Begriff "Graffiti" heranzuziehen. Denn er signalisiert doch immerhin ein paar der Assoziationen, die sich vor diesen erstaunlichen Kunst-Produkten zunächst einstellen: Die Suggestion verwitterter alter Zäune, morscher Mauern und brüchiger Bretterwände. Das vermeintlich darauf Hingekritzelte. Die Anmutung halb abgerissener Plakat-Fragmente. Kurzum: Jenes Seh-Gefühl, das wir recht instinktiv (und damit letztlich recht klischeehaft) mit den heruntergekommen pittoresken "schwarzen" Vierteln zwischen New York und London, Paris und Dakar, Berlin und Amsterdam in emotionale Verbindung setzen.

Und keine Frage: Ransom Stanley lockt uns vorsätzlich hinein in eben diese Assoziationen. Er benutzt sie, so wie er auch Micky Maus und Schweinchen Dick und Coke und Kaba nutzt, um unsere Vorstellung zu lenken.

Aber laufen wir da nicht am Ende einer Mystifikation auf? Graffiti bedeuten ja letztendlich eine Art Folklore, eine überwiegend anonyme, überwiegend mehr dem Zufall denn dem Kunst-Kalkül verpflichtete Spontan- und Alltags- und Protestkunst. Und gewiss: beim ersten Blick verheißt uns Ransome Stanleys Bildwelt eben dies. Aber bereits der zweite sieht es gründlich anders.

Es wäre deshalb wohl - vor allem anderen - zu überlegen, ob sich der Begriff der Graffiti nicht überzeugender durch einen anderen, zum Beispiel den des Palimpsests ersetzen ließe. Sie erinnern sich: es geht um jene alten, manchmal bis ins Frühmittelalter reichenden Pergament-Handschriften, die irgendwann von späteren Generationen ausradiert und neu beschrieben wurden; aber doch so, dass der Vorgängertext durch diesen Eingriff nicht tatsächlich ausgelöscht worden wäre, sondern wie ein Schatten das darauf Geschriebene durchdringt. Mit der faszinierenden Folge, dass sich dem UV-Licht der modernen Forschung in ein und dem selben Manuskript - als rein fiktives Beispiel - die Abschrift eines hellenistischen Autors, ein Augustinus-Kommentar des 10. Jahrhunderts, ein Ritterepos des Hochmittelalters und ein Verwaltungsakt des 14. Jahrhunderts erschließen könnten.

Dieser Prozess der unvollkommenen Überschreibung, der durchlässigen und damit gleichsam zeitporösen Oberfläche betrifft möglicherweise Ransome Stanleys Malerei weit näher als jener von Graffiti-Kunst. Denn er gibt und er belässt den Farbräumen, die seine Bilder zunächst beherrschen, ihre Uneindeutigkeit. Sie können sich als Übermalung einer - nur zum Teil verdeckten - Bildvergangenheit darstellen. Und zugleich wiederum als Hintergrund von Bildereignissen, die sich auf ihrer Oberfläche abspielen. Ein Schichtungs- und Verwitterungsprozess, der tatsächlich zugleich dem Malprozess entspricht. Denn allerdings baut Stanley seine Bilder in zahlreichen Schichten auf. Wäre da nicht der Unterschied, dass dieses scheinbar so naturhafte Verwittern sich als kein natürlicher Verfall, sondern als ein bis ins kleinste kalkulierter künstlerischer Akt erweist. Ein Kunst-Griff, der sich eben dadurch als besonders souverän verwegen ausweist, dass er echter Korrosion und echtem Materialverfall gewissermaßen Gastrollen in seiner Malerei einräumt. Wenn zum Beispiel in einer scheinbar vormals grün lackierten Bretterwand scheinbar die Farbe seit Jahrzehnten bleicht und bröselt, so dass Fugen, morsches Holz und rostige Nägel darunter sichtbar werden - aber alles dies, die bröckelnde, verschossen grüne Farbe und die Ritzen und das rohe Holz und die verrosteten Nägel reines Artefakt und meisterliche Malerei und schiere Illusionskunst sind. Bis auf eine einzige tatsächlich echte Fuge mit tatsächlich abgeplatzter Farbe, mit tatsächlich echten Rost- und Verwitterungsspuren. Und bis auf ein paar tatsächlich in das Bild montierte Nagelköpfe.


Das jedoch, verehrte Damen und Herren, ist weit mehr als nur ein künstlerisches Spiel. Es ist eine Grundsatzerklärung. So wie es das Ziel der klassischen Malerei einst war, die Wirklichkeit in idealisierter Schönheit nachzuahmen. So gibt Ransome Stanley nun der Wirklichkeit sehr punktuell die Chance, seine Malerei nachahmend einzuholen. Wobei die wechselseitige Verwandlungskunst bisweilen etwas fast schon Unheimliches annimmt. Etwa, wenn die Malerei mit ihren Schrunden, ihren Maserungen, ihrem Rost so zwingend eine darunter liegende Wand oder zumindest doch ein recht massives eisenbeschlagenes Holzbrett suggeriert, dass man nachgeradezu erschrickt, wenn das Bild dann bei Berührung unverhofft zu schwingen anhebt und nichts anderes ist als ganz normal bemalte Leinwand (während anderen Ortes die vermeintliche Malerei sich eben doch als echtes Zinkblech ausweist).

Auf derlei im Wortsinn schwankendem Grund bewegen sich die Bilder. Wobei uns klar sein muss, dass Ransome Stanley solcherart in Wahrheit Zeit gestaltet. Dass er seinen Bildern ihr Alter, ihren Verfall und ihre Vorgeschichten hinzu erdichtet. So, wie in geschriebenen Palimpsesten eben auch nicht nur vier Texte, sondern mit ihnen auch vier Zeiten, vier Epochen und Kulturen in- und übereinander gelagert wurden.

Damit aber sind wir dem eigentlichen Inhalt dieser Malwerke sehr nahe. Denn dass sie einen Inhalt haben, dass sie über ihre Kunst hinaus Geschichten erzählen wollen, ist ersichtlich. Nur erscheinen diese Geschichten auf den ersten Blick so hochgradig verschlüsselt, so verwoben in ihr eigenes Geheimnis, dass wir zu resignieren bereit sind, ehe wir mit unseren Fragen auch nur recht begannen.

Dies Geheimnis allerdings lässt sich entschlüsseln, wenn wir erst zu akzeptieren bereit sind, dass sich Ransome Stanleys Palimpsest-Prinzip auch auf die Bild-Inhalte erstreckt. Dass sich hier verschiedene, auch zueinander durchaus heterogene, aber in sich dennoch kohärente Themenschichten überlagern: ein Erinnerungs-Memory, eine Art Kultur- und Lebens-Puzzle in 3D, das mit der Realität des Autors, Malers und Erfinders mehr zu tun hat, als ihm und uns möglicherweise lieb sein kann.

Denn, meine Damen und Herren, es bleibt immer misslich, wen wir die Biographie des Künstlers mit heran ziehen müssen, um seine Bilder zu erklären. Die zünftige Fachdisziplin sieht derlei nicht sehr gerne. Aber andererseits – um nur ein aktuelles Zufallsbeispiel anzuführen: Blieben die grandiosen Rätselbilder eines Max Beckmann für uns nicht gänzlich unverstehbar, wenn wir sie nicht mit der Zeit der Weimarer Republik, der Nazi-Diktatur, dem Leben und der Position des Künstlers, der Beziehung zu seinen Lebenspartnerinnen Mina Tube und Mathilde "Quappi" Kaulbach, seiner Flucht nach Amsterdam, seinen verzweifelten Einreisebemühungen in die USA und all dem in Verbindung setzen könnten?

Nun, bei Ransome Stanley kommen wir nicht weiter ohne das Wissen um seinen Vater, einen nigerianischen, in London arbeitenden Journalisten, der 1958 als Reporter über den Unabhängigkeitskrieg zwischen Angola und Portugal berichten sollte, eines Tages verschwand und nie gefunden wurde. Da war Ransome Stanley gerade fünf; und seitdem muss er mit der unheilbaren Lebensverletzung eines verschollenen Vaters leben, über dessen Schicksal seit nun beinahe fünfzig Jahren kein Lebens-, aber auch kein Sterbenszeichen Auskunft gibt. Wir kommen aber auch nicht weiter ohne das Wissen um die deutsche Mutter, ohne Stanleys Kindheit und Jugend in der Nähe von Basel. Ohne seine durch und durch mitteleuropäische Erziehung. - Einschließlich dessen, was Dieter Dorn vor vielen Jahren einmal unsere "amerikanische Erziehung" genannt hat. Also, um es in drei K-Laute zu fassen: Kino, Comics, Coca Cola. Wir kommen nicht weiter ohne die Tatsache, dass Ransome Stanley sein Vaterland im ursprünglichen Sinn des Wortes, also Afrika, erst vor vier Jahren als Tourist erstmals leibhaft erlebt hat; aber dieses Vaterland als Loch, als bittere Nicht-Erinnerung in seinem Leben dennoch seit der Kindheit in sich spürt. Während seine Heimat, seine Kultur, sein Leben ganz und gar in Europa und seit nunmehr 21 Jahren ganz konkret in München liegt.

Wenn wir all das aber miterwägen, wird es plötzlich sehr viel leichter versteh- und ganz im Wortsinn einsehbar, warum in der verblichen grünen Bretterwand, die uns in seinem Bild "Atelier" die Sicht vernagelt, links oben eine Art Fenster in die Tiefe aufbricht zu drei Schwarzafrikanern in Landestracht, die aber dennoch nicht real erscheinen, sondern mehr wie ein verkratztes, brüchig gewordenes Foto, auf dem wiederum zwei andere Erinnerungsbilder pinnen: zum Beispiel links zwei Jazz-Sänger aus einem amerikanischen Comic-Strip der zwanziger- oder dreißiger Jahre, als es noch gänzlich legitim, gutmütig witzig und womöglich kindgerecht schien, farbige Musiker gleichsam als Orang-Utans im Anzug darzustellen. Und ganz offen gesagt: Ich habe das Gefühl, dass Ransome Stanley diesen eigentlich doch fürchterlichen, ekelhaft rassistischen Ausriss durchaus nicht anklägerisch oder gar wütend in sein Bild montiert hat. Sondern – verzeihen Sie die Zumutung – fast schon nostalgisch. Wir beide – er und ich – entstammen ja annähernd der selben Generation. Und vermutlich haben er und ich damals all diese Tex-Avery-Comics, diese "Looney Toons" und Merry Melodies", all diese blödelnden Cartoons, all die vergnügten "Mecki bei den Negerlein"-Geschichten mit demselben unschuldigen Vergnügen genossen, mit dem wir Micky Maus und Schweinchen Dick und Felix den Kater lieb gewannen. Ohne im mindesten zu begreifen, was da eigentlich ablief. Diese Naivität hat man uns mittlerweile gründlich abgeräumt; und damit doch zugleich ein Loch in uns zurückgelassen. Etwas Unausgefülltes. Eine nicht vollständig abgelöste, durch Vernunft bewältigte Scham (wobei ich mir denken könnte, dass dieser zivilisatorische Crash bei Ransome Stanley einen ungleich komplizierten, noch ungleich schlechter ausheilbaren Splitterbruch zurückließ als bei mir).


Von solchen Dingen also handeln seine Bilder auch; wobei sie in ihrer Botschaft bis zur Selbstpreisgabe privat sein können: Wenn zum Beispiel einem seltsam eingeknickten, halb schon in die Knie gesunkenen Mann die Journalisten-Schreibmaschine aus den Händen fällt, hinunterstürzend in ein schwarzes Labyrinth. Wenn dieser Mann zum Business-Anzug zugleich einen Taucherhelm über den Kopf gestülpt hat, also abtaucht, untertaucht, verschwindet. Während neben diesem Helm eine afrikanische Kultmaske wie ein ungreifbares Synonym zu schweben scheint. Und wenn nun diese ganze Szene wieder wie im Palimpsest hinter der Farbe zu verschwinden droht und weggesaugt wird in eine zunehmend kompakte, leere Wand, die in dem rechten Flügel der Doppeltafel wiederum nur Hintergrund ist für einen verlassenen Korbstuhl und – schon wieder – für die an die Wand gepinnte Reklame eines zum Menschen kostümierten Zirkusaffen.

Dass solch ein Bild trotzdem ganz ohne Bitterkeit, ganz ohne Larmoyanz und Selbstmitleid, ganz ohne affirmative Gestik auskommt; sondern nur ehern streng gebaut und in klar definierten Chiffren komponiert ist - und auf seine Weise damit sogar leicht, fast heiter: Das ist eine Qualität und Größe, vor der man fast zurückschrickt ... wenn man erst einmal begriffen hat, was man da eigentlich sieht.

Meine verehrten Damen und Herren, wir behaupteten vorhin, dass wir in Ransome Stanleys Kunst von Zeit-Palimpsesten reden. Also von Überlagerungen, die zwar zueinander kontrastieren, aber in sich kohärent erscheinen. Dieses Palimpsest-Prinzip lässt sich nun quer durch das OEuvre verfolgen. Und zwar dermaßen dicht und konsequent, dass sich die Kohärenz der Zeitschichten auch mit dem musikalischen Begriff des Leitmotivs umschreiben ließe. Zum Beispiel finden Sie die Gestalt des in die Knie einsinkenden Mannes fast wörtlich auch in anderen Bildkontexten wieder. Nur, dass die Gestalt dort wirklich eine afrikanische Kultmaske trägt. Sie finden überall und immer wieder die Figur des als Mensch herausgeputzten, lachenden und musizierenden Affen. Sie finden die alten Comic-Figuren. Und sie finden die farbigen Jazz-Sänger - die als Bildmotiv gleich doppelt besetzt sind: als Erinnerung – und als Musik; den Ransome Stanleys Bilder sind auch in sich purer Jazz. Oder, um es korrekter zu sagen: purer Blues.

Sie finden weiterhin das Leitmotiv der beiden farbigen Männer - Vater und Sohn, obwohl sie fast gleich alt erscheinen -, die sich Auge in Auge, Brust an Brust gegenüberstehen. Deren Körper durch scharf in die Farbe eingekratzte Striche wie zusammengenäht erscheinen; und dabei in ihrer Beziehung zugleich wie durchgestrichen, auseinandergefetzt. Sie finden Abbildungen aus Zeitungen und Handbüchern des 19. Jahrhunderts, die uns zum Beispiel das Stelzengehen erläutern und das Rhönradfahren oder wie man einen verletzten Arm verbindet. Kurz: all die positivistischen Bürgerkünste aus der Gründerzeit, die zugleich auch die Kolonialzeit war. Sie finden die bekannten Markennamen, die bis heute unseren alltäglichen Rassismus, unsere verkrüppelte Weltsicht perpetuieren mit Kaba, dem Plantagentrank und Afri-Cola mit der Palme. Und – sie finden die leeren Räume: jene erschreckenden Bruchmomente, wen eine scheinbar kompakte Farbenfläche sich auf einmal öffnet und damit zur Wand wird, die den Weg in ein uns unbekanntes, leeres, offenes Dahinter freigibt und zugleich versperrt.

Verehrte Damen und Herren - diese Räume zu betreten, ist uns dennoch möglich. Aber nur, wenn wir uns mit hineinziehen lassen in ein sehr persönliches, geheimnisreiches und trotzdem erfahrbares, entschlüsselbares Bild-, Erinnerungs- und Assoziationssystem; in einen Chiffren- und Gedanken-Kosmos, welcher in der deutschen Malerei der Gegenwart nur wenig seinesgleichen hat (ich jedenfalls wüsste neben Anselm Kiefer, Jörg Immendorff, Neo Rauch sowie einigen anderen Vertretern der sogenannten "Leipziger Schule" spontan nicht allzu viel zu nennen). Dass dies mittlerweile auch die Kunstszene jenseits von München zu begreifen anfängt, war längst überfällig. Dass wir hier in Aschau es zur rechten Zeit begriffen haben, macht ein bisschen stolz. Dass diese Ausstellung zeitgleich mit Ransome Stanleys erster großer Werkmonographie zustande kam, freut mich und könnte auch Sie freuen. Und ganz nebenbei und nota bene: einen ähnlich liebenswürdigen, bescheiden lebensklugen und gänzlich unprätentiösen Künstler wie Ransome Stanley werden Sie so schnell nicht finden. Deshalb - nutzen Sie den Tag auch dafür. Viel Vergnügen.

Klaus Jörg Schönmetzler